Wegweiser:

Kritiktrieb

Bei gewissen Krankheiten, deren Symptome den Nervenärzten wohlvertraut sind, macht man die seltsame Beobachtung, daß die Erkrankten jeder Heilungsabsicht inneren Widerstand entgegensetzen, weil sie den krankhaften Zustand geradezu wie eine besondere Wertbetonung ihrer lieben Persönlichkeit empfinden und somit keineswegs wirklich von ihm befreit sein möchten.

 

Nicht allzuferne von derart pathologischem Zustand sind in heutigen Tagen leider allzuviele Menschen, über die eine seuchenhaft grassierende Kritiksüchtigkeit derart Herr geworden ist, daß es ihnen nicht mehr wohl in ihrer Haut wäre, fänden sie nicht allenthalben um sich her stets neuen Anlaß zu berechtigter, oder auch oft sehr unangebrachter Verneinung des Tuns und Werkes ihrer Nebenmenschen.

 

Es kommt den hier gemeinten Kritiktriebkranken gar nicht mehr zu Bewußtsein, daß normales und gesundes Bedürfnis zu kritischem Verhalten erst dann sich einstellt, wenn kenntnisgefestigte und ihrer Sicherheit gewisse Prüfung jeweils die Momente im Wirken und Werk des Anderen entdeckt, durch die entweder seine Absicht gefährdet erscheint, zum erstrebten Ziel zu gelangen, oder durch die eine unlautere Absicht erkennbar wird.

 

 

Kritik, die aus nicht entartetem Kritiktrieb erwächst, ist immer „wohlwollend”, denn der seines gesunden Triebes mächtige Wille erstrebt da in der Auswirkung entweder das Wohl des kritisierten Handelnden, oder das Wohl der vor diesem zu schützenden anderen Mitmenschen.

 

 Von einem gesund gebliebenen Kritiktrieb ausgehende Kritik läßt sich auch stets durch Belehrung korrigieren und wird nie in eigensinnigem Beharren besserem Wissen Widerstand leisten.

 

Das krankhaft überreiztem Triebe entstammende Kritikbedürfnis will hingegen nur die eigene Befriedigung und fühlt empfindlichen Mangel, wenn es ihm schwer wird, sich die gewohnte, fast wollüstig ersehnte Selbstbefriedigung zu verschaffen.

 

 Über diese Dinge ist sich so Mancher nicht klar, der sich viel darauf zugute hält, daß er an allem und jedem was seine Nebenmenschen treiben und schaffen, „etwas auszusetzen” hat, weil er seinen ursprünglich gesunden Kritiktrieb zur Hypertrophie entarten ließ durch fortgesetzte, selbstgewollte Überreizung…

 

 Was aber hier gesagt wird, geht auch alle an, die ihren Kritiktrieb noch gesund zu erhalten wußten, denn der beste Schutz vor seiner möglichen Entartung ist stete Achtsamkeit auf die ihm drohende Gefahr.

 

 

Es liegt unbestreitbar ein gewisser sinnlicher Reiz darin, seiner Kritiklust die Zügel zu lockern und an Anderen der Wirkung froh zu werden, die ungehemmte Verneinung immer auslöst, sei es in der Form frohlockender Zustimmung, oder als entrüstete Abwehr.

 

 Gerade diesem Anreiz aber gilt es zu widerstehen, denn wer ihm des öfteren erliegt, der wird unmöglich seinen Kritiktrieb gesund erhalten können.

 

Hier handelt es sich nicht etwa um harmloses Spiel, das keinem verwehrt werden dürfe.

 

Allzuviel Unheil wird tagtäglich durch eilfertiges und vorlautes Kritisieren heraufbeschworen, in verhängnisvoller Auswirkung krankhaft entarteten Kritiktriebes, als daß es nicht an der Zeit wäre, dem Übel endlich festen Willens entgegenzutreten.

 

Es handelt sich hier nicht um berufsmäßige Kritik, die sich mit bildender Kunst, Literatur, Musik und Theater befaßt, denn da liegt doch zumeist das Amt des Kritikers in der Hand von Publizisten, die auf diesen Gebieten genügend Orientierung besitzen um mit der Kritik der Werke dort einsetzen zu können, wo fruchtbare Wirkung zu erwarten ist.

 

Man wird auch schwerlich unter berufsmäßigen Kritikern vielen Kritiktriebkranken begegnen, und wenn berufsmäßige Kritikausübung auch keineswegs vor Irrtümern geschützt ist, so bleibt doch das kritisierte Werk bestehen und kann sich im Laufe der Zeit die Revision des Fehlurteils erzwingen.

 

Anders aber liegen die Dinge bei den wilden Äußerungen entarteten Kritiktriebes gegenüber dem Tun und Reden des Nebenmenschen, denn hier können Unkenntnis, Vorwitz, oder böser Wille jede gute Wirkung im Keim ersticken und jede spätere Korrektur unmöglich machen.

 

 

Besonders gilt das im Bereich des öffentlichen menschlichen Gemeinschaftslebens, allwo Unzählige das Recht des Einzelnen zur Mitbestimmung seiner äußeren Lebensbedingungen als ein Recht zu ahnungsloser Kritik an allen und allem auffassen, und so unweigerlich zu kläglicher Entartung ihres Kritiktriebes gelangen.

 

 Gerade hier aber wirkt solche Entartung auch ansteckend wie eine Seuche…

 

 Da sich jeder Einzelne zur Kritik berechtigt fühlt, auch wenn ihm jede Sachkenntnis abgeht gegenüber dem Tun oder Reden, das zu kritisieren er unternimmt, so wirkt auf ihn die kritische Äußerung eines Anderen als überaus suggestive Aufforderung, sich in gleicher Weise hören zu lassen, wobei dann die Eitelkeit dafür sorgt, daß die Aufblähung der eigenen Persönlichkeit des Kritikers aller sachlichen Kritik überordnet wird…

 

Einer besonderen Vorliebe erfreut sich bei solchen an der Kritiksuchtseuche Erkrankten das Schlagwort als bequemstes und immer effektvolles, kritisches Scheinargument.

 

Der Dümmste vermag noch, ein Virtuose des Schlagworts zu werden, das stets ein sicherer Köder für alle Denkträgen und Urteilsunmündigen ist und bleiben wird.

 

Die Beliebtheit des Schlagworts genügt aber allein schon zur Entlarvung der damit operierenden Kritik, als eines verantwortungslosen Bestrebens, die zumeist recht dürftige Geistigkeit des Kritikers gewichtig und bedeutsam erscheinen zu lassen.

 

Man darf wohl sagen, daß jegliche Kritik im gleichen Maße an Gültigkeit und Wert verliert, als sie genötigt ist, ihre Zuflucht zu wirkungserprobten Schlagworten zu nehmen. —

 

Kritik als Auswirkung des gesunden Kritiktriebes aber kennt das Schlagwort kaum.

 

Der noch nicht erkrankte Kritiktrieb weckt vor aller Auswirkung das Verantwortungsgefühl des Kritikers.

 

Nicht um die Selbstbetonung einer Persönlichkeit handelt es sich bei der Betätigung des gesunden Kritiktriebes, sondern um die Mitwirkung an der Vervollkommnung eines Zustandes, einer Einrichtung, oder sonstigen menschlichen Werkes.

 

 

Hoch erhebt der Kritiktrieb den Menschen über das Tier!

 

Auch das intelligenteste Tier nimmt seine Umwelt hin wie sie ist, und äußert nicht die leisesten Anzeichen wirklich kritischen Verhaltens.

 

Freudiges Annehmen, oder Abwendung und Widerstand im Verhalten des Tieres zur Außenwelt, sind nur Äußerungen seines Selbsterhaltungstriebes und dürfen niemals als Ergebnis kritischen Erwägens gedeutet werden.

 

Der Kritiktrieb des Menschen setzt die Erahnung eines vollkommeneren Zustandes der Dinge voraus, als er jemals hier auf Erden anzutreffen ist.

 

Wäre der Mensch hier im Leben der physischen Erscheinungswelt heimisch, wie das Tier, — wie würde er Kritik üben können an seiner ihm äußeren Welt!? —

 

Nur weil sein Geistiges Vollkommeneres kennt, als die ihn umgebende irdische Welt, konnte der Mensch den Trieb zur Kritik in sich erzeugen.

 

Die ihm heute nicht mehr bewußtseinsgegenwärtige Erfahrung seines urgegebenen geistigen Seins ist dennoch Ursache seines kritischen Verhaltens gegenüber der ihn nun umgebenden physischen Welt.

 

Durch eigene Willens-Strebung ausgestoßen aus dem Bewußtseinsbereich des reinen Erlebens wesenhaft geistiger Gestaltung, bleibt die ewige Geistsubstanz, die im Erdmenschtiere sich nun physisch-sinnlich erlebt, doch immer noch Träger der Erinnerung an ihren vormaleinst erlebten Seinszustand, und wenn auch das erdentierhafte Gehirn nicht ohne weiteres fähig ist, an solcher „Er-Innerung” teilzunehmen, so wird es gleichwohl ihrer ahnend teilhaftig durch Influenzwirkung. —

 

Alle Auswirkung gesunden Triebes zur Kritik ist bestimmt durch unbewußtes Vergleichen des im Irdischen Dargebotenen mit der Form absoluter Vollkommenheit, die ihm in geistiger Erscheinung entsprechen würde.

 

 

Wir Menschen hier auf Erden leben unter dem Einfluß zweier, voneinander äußerst verschiedener Vollkommenheits Ideale, mögen wir unsere Doppelstrebigkeit ignorieren, oder — wie alle nicht ganz irdisch verkrusteten Naturen — bitter an ihr leiden…

 

Wären wir nur irdisch-sinnliche Naturen, dann wäre die Zwiestrebigkeit und alles ihr entspringende Leid unmöglich.

 

So aber sagt uns das physische Dasein zwar mit brutaler Vehemenz, was ihm für sich „Vollkommenheit” heißt, während wir durch das gleiche physische Gehirn auch rein geistige Influenz aufnehmen, womit uns die Vorstellung einer Vollkommenheit gegeben wird, neben der alles irdisch Vollkommene für uns zur Unvollkommenheit verdammt erscheint. — —

 

Es muß zu innerer „Zerrissenheit” führen, wenn ein Mensch danach strebt, Dinge, die ganz der physischen Gesetzlichkeit unterordnet sind, zu einer Vollkommenheit zu führen, die nur im Geistigen gegeben ist!

 

Alles Streben nach „Vergeistigung” des Körperlichen gehört hierher…

 

Es ist uns nur die erhabene Möglichkeit geboten, hier im Physischen den Geist zu verkörpern, aber auch diese Geist-Verkörperung ist nur nach der Weise physisch-sinnlicher Vollkommenheit vollziehbar, — wird also der Vollkommenheit des ewigen Geistes gegenüber allzeit als „unvollkommen” gelten müssen. — — —

 

 

 Nun verleitet uns aber der zwar geistgezeugte, jedoch nur im Physischen sich auswirkende Kritiktrieb immer wieder zu der irrtümlichen Annahme, wir könnten das in der physisch-sinnlichen Erscheinung Gegebene zu jener Vollkommenheit führen, die nur im Geistigen möglich ist.

 

Daher dann die Übersteigerung unserer Ansprüche an uns selbst und die mit uns Lebenden, — daher die Hypertrophie des ungehemmten Kritiktriebes! —

 

Die einsehen können, was hier einzusehen ist, sollten sich wahrlich endlich klar darüber werden, daß Kritik am Tun und Treiben ihrer menschlichen Umwelt nur dann berechtigt ist, — daß der Kritiktrieb nur dann gesund erhalten werden kann, — wenn sorglichst geachtet wird auf die Bedingungen, denen alles Wirken des Menschengeistes hier auf Erden unterstellt ist.

 

Auch die irdisch-vollkommenste Leistung des Menschen innerhalb der physisch-sinnlichen Erscheinungswelt bleibt ein Unvollkommenes gegenüber dem, was dem ewigen, wesenhaften Geiste Vollkommenheit heißt. —

 

Um wievielmehr ist alle Nachsicht dort geboten, wo nach Lage der Dinge nicht einmal die „Vollkommenheit” nach physischer Möglichkeit erwartet werden darf…

 

 Kritiksucht ist die Krankheit, mit der die „Schlange” des „Paradieses” die Menschheit infizierte, und vielleicht versteht man nach dem, was hier zur Erörterung kam, nun besser die verlockenden Worte, die innerhalb der mythischen Erzählung durch das satanische Prinzip dem Menschen eingeflüstert werden:

 

„Ihr werdet sein wie die Götter, — erkennend Gutes und Böses!” — — —

 

Gar trübe und endlich vergängliche „Götter” sind es, die solcher „Erkenntnis” teilhaft sind!

 

Vor dem ewigen, wesenhaften Geiste aber ist alles „Böse” nur zeitlich erscheinender, vergänglicher Irrtum, dessen physische Realität für geistiges Bewußtsein ein „Nichtsein” ist, denn was allein im Geiste sich selbst erlebt, ist ewige Vollkommenheit: — das urgezeugte und ewig sich selber weiterzeugende „Gute”. — — —

 

 

 Und nun noch ein Wort über Selbstkritik!

 

Daß auch diese Art der Auswirkung den Kritiktrieb zur Entartung bringen kann, wenn er nicht durch rechte Einsicht geleitet wird, das dürfte am ehesten vielleicht doch allen denen verstehbar werden, die selbst an solcher Triebentartung leiden…

 

Kritik am eigenen Verhalten kann ebenso fördern oder hemmen, wie unsere Kritik an Anderen diesen zur Förderung oder Hemmung gereichen kann.

 

In beiden Fällen wird die Auswirkung des Kritiktriebes nur dann Segen bringen, wenn vor allem anderen das Gute erspürt und wertgeachtet wird, ehe man nach Fehlern und Mängeln an sich oder seinen Nebenmenschen forscht. —

 

Ein einziger positiver Wert kann die Fülle aller vorhandenen Fehler und Mängel überwiegen!

 

Die Sage erzählt, daß Sodom vernichtet wurde, weil die Sünde seiner Tausende ihm zum Verderben gereichte, aber — um „zehn Gerechter” willen wäre die ganze Stadt gerettet worden…